Maritimer Adventskalender 2024

„Der Mensch sollte im Vordergrund stehen! Nicht die Ware oder das Kapital“

Die Theologin und ehemalige Landesbischöfin Margot Käßmann spricht im Interview über Seeleute und mögliche Gründe, warum die Gesellschaft ihre wertvolle Arbeit kaum sieht.

Es gibt 1,7 Millionen Seeleute auf der Welt – etwa so viele, wie Menschen in Hamburg leben. Wie kann es sein, dass eine ganze Stadt für den Rest der Gesellschaft unsichtbar ist (dabei bringen uns Seeleute 90 Prozent unserer Waren …)?

Margot Käßmann: Ich denke, die Menschen wissen viel zu wenig. Erst wenn ein Containerschiff wie die „Ever Given“ den Suezkanal blockiert und dadurch Lieferketten unterbrochen werden, wird klar, wie sehr wir auf den Transport von Waren und Gütern auf Schiffen und damit die Arbeit von Seeleuten angewiesen sind. Außerdem gibt es noch dieses romantisierte Bild vom Seemann, der in jedem Hafen eine Braut hat und die Welt kennenlernt. Dass das nichts mit der harten Realität der Seeleute heute zu tun hat, ist kaum jemandem bewusst.

Welche drei Begriffe fallen Ihnen ein, wenn Sie an Seeleute denken?

Allein gelassen. Heimatlos. Rechtlos.

Jesus’ erste Jünger waren Fischer… Lässt sich daraus etwas für Seeleute herleiten?

Ihre Verzweiflung angesichts des ausbleibenden Fangs nimmt Jesus ernst. Er ermutigt sie, es noch mal zu versuchen. Vertraut auf eure Kräfte, habt Vertrauen in die Zukunft. Da kann noch etwas gelingen, was ihr gar nicht erwartet. Resigniert nicht. Kurzum: Ich denke, wir könnten die Geschichte als Ermutigung für Seeleute heute interpretieren.

Haben Sie drei theologische Gedanken, die Sie den Seeleuten gern mit auf den Weg geben würden?

Mir liegt daran, Hoffnung weiterzugeben in einer Welt, die manchmal düster und hoffnungslos erscheint. Zum einen: Jeder Mensch ist Ebenbild Gottes, geschaffen zum Bilde Gottes. Du bist also etwas wert, eine angesehene Person, weil Gott dich ansieht. Zum Zweiten: Selig sind die Menschen, die eine Sehnsucht haben nach Gerechtigkeit, sagt Jesus in der Bergpredigt. Also: Diese Sehnsucht soll wach bleiben! Und: Es bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen, schreibt der Apostel Paulus. Ich wünsche den Seeleuten, dass sie von der Liebe ihrer Familien getragen sind in der Ferne auf tosender See.

Aber noch einmal zurück zur Ausgangsfrage: Was steckt dahinter, dass Schiff und Ladung stets im Vordergrund stehen, wenn wir über globalen Handel reden?

Das ist erst mal einfach nur traurig. Denn am Ende soll doch der Mensch im Vordergrund stehen und nicht die Ware oder das Kapital. Wir leben in einer Welt, in der Geld und Gewinn zählen. Aber gerade als Christen sollten wir dem den Menschen entgegensetzen, der zählt. Mit seiner Lebensgeschichte, mit seinem Angesicht, als Individuum. Als Geschöpf Gottes, das Würde und Respekt verdient.

Frau Käßmann, Danke für das Gespräch.

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Dieser Beitrag erschien zuerst im „Lass fallen Anker“, dem Magazin der Deutschen Seemannsmission. Die komplette Ausgabe finden Sie auf: seemannsmission.org/presse/lass-fallen-anker/